Alltag

Warum Kinder flunkern (müssen)

Lügen sind tabu! Ein Punkt, der beinahe auf jeder „Erziehungsziel-Liste“ ganz weit oben steht. Aber irgendwann wird jedes Elternteil vor dem kleinen Knirps im Schlafi stehen und er/sie behauptet felsenfest und ohne zu zögern, dass die Zähne natürlich schon längst geputzt sind.

Blöd nur, dass die Zahnbürste in der letzten Stunde keinen Milliliter Wasser gesehen hat, das Waschbecken noch immer glänzt und der Spiegel noch keine Spritzer vorweist. Eindeutige Beweise, die den kleinen Schwindler enttarnen.

Kein Grund zur Sorge!  Das „Spiel mit der Wahrheit“ gehört bei der kindlichen Entwicklung einfach dazu. Wie das sein kann? Das hat uns Johanna Zurwieden erklärt. Johanna ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Die Bielefelderin ist Mama von den 4-Jährigen Zwillingsmädels, Alma & Tilde, mit eigener Praxis in Werther.

milkids: Warum flunkern Kinder überhaupt?
Johanna Zurwieden: Nahezu jedes Kind probiert aus, wie weit es mit Notlügen und Schummeleien durchkommt.
Grob gefasst gibt es drei Gründe, wieso Kinder überhaupt flunkern:

1. um ein gewünschtes Ziel zu erreichen.
2. um eine unerwünschte Konsequenz abzuwenden. Beispielsweise negative Konsequenzen, also Ärger oder Strafen, zu vermeiden oder aber auch um etwas geheim zu halten.
3. soziale Erwünschtheit zu erlangen (sogenannte prosoziale Lügen). Beispielsweise um Anerkennung zu generieren: „Ich kann schon bis hundert zählen“.

milkids:  Ist es also quasi ein Meilenstein in der kindlichen Entwicklung?

Johanna Zurwieden: Ganz klar: Ja! Sogar ein wichtiger. Es ist ein Teil der kognitiven Entwicklung. Auch wenn sich das im ersten Augenblick für Eltern ganz anders anfühlt, sind Lügen und die damit verbundenen Konsequenzen, Erfahrungen, die Kinder in ihrer Entwicklung durchleben (müssen).  
Erwachsene verbinden -logischerweise- Lügen im ersten Moment nur mit negativen Aspekten. Vielleicht versucht man an dieser Stelle das Positive zu sehen: Wenn das Kind anfängt zu flunkern, hat es in der Vergangenheit unterschiedliche Fähigkeiten bereits erlernt und kann sie „anwenden“. Es bedarf einer Vielzahl an Fähigkeiten, über die das Kind verfügen muss, um überhaupt schwindeln zu können.  

milkids: Zum Beispiel?

Johanna Zurwieden: Um überhaupt lügen zu können, muss es Kindern möglich sein, vorausschauend zu denken. Empathie und/oder Perspektivübernahme ist also eine Voraussetzung, um überhaupt zu flunkern. Nur so kann sich das Kind in sein Gegenüber hineinversetzen und wissen, was der/die Andere für eine Antwort erwartet, um dann auch bewusst zu flunkern. Hinzu kommt, dass ein gewisses, sprachliches Ausdrucksvermögen vorhanden sein muss und die Fähigkeit, nachvollziehbare Erzählungen zu verbalisieren.

milkids: Wann geht es mit dem Flunkern los?

Johanna Zurwieden: Jedes Kind ist individuell und beherrscht oder erlernt die erwähnten Fähigkeiten zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Grob gesagt, kann man es aber wie folgt gliedern:

Bis zum vierten Lebensjahr können Kinder zwischen wahr und unwahr noch keine korrekte Trennung ziehen. Hier werden nicht selten unglaubliche Geschichten erfunden. Für Kinder in diesem Alter gibt es nur die eigene Realität.

Bewusstes Flunkern können Kids in diesem Alter nicht wirklich. Über dieses  geistige„Rüstzeug“ verfügen Kleinkinder einfach noch nicht. In diesem Alter kann man also auch noch gar nicht so recht von absichtlichen Lügen sprechen. Unehrlichkeit muss erst noch erlernt werden.

Mit vier bis fünf Jahren verändert es sich, Kinder können zwischen wahr und unwahr unterscheiden. Jetzt ist ein Kind in der Lage, sich in die Gedanken seiner Mitmenschen hineinzuversetzen, also Empathie zu entwickeln – eine Voraussetzung zum Flunkern. Das kindliche Bewusstsein ist so weit fortgeschritten, dass Kinder gezielt flunkern und schauen, ob sie damit auch Erfolg haben.

milkids: Was kann ich machen, wenn ich merke, dass mein Kind geflunkert hat?

Johanna Zurwieden: Auf jeden Fall nicht gleich losschimpfen!
Eltern sollten als erstes das Gespräch suchen. Genauer nachfragen und so dem Kind die Möglichkeit geben, die Flunkerei zu „verbessern“: „Hast du wirklich schon deine Hausaufgaben gemacht? Vielleicht überlegst du noch einmal ganz genau, ob das stimmt.“ So bietet man seinem Kind Hilfe an, um aus einer Lüge „herauszukommen“.
Bleibt es bei der Schwindelei sollte man das Kind wissen lassen, dass es aufgeflogen ist. Es ist notwendig zu erklären, wieso Zähne putzen und Hausaufgaben machen so wichtig sind, um die intrinsischen Motivation zu fördern.

Kommt es häufiger vor, sollte eine natürliche Konsequenz folgen. Sie sollte aber im Zusammenhang mit der Flunkerei stehen. Verbietet man dem Kind z.B. wegen der Lüge am nächsten Tag TV zu schauen, stehen Flunkerei – Konsequenz in keiner Beziehung. Besser: Das Kind darf vorerst nur noch im Beisein von Mama oder Papa die Zähne putzen.
Wenn es dann gut klappt, kann man natürlich auch wieder „alles auf Anfang setzen“. Das Kind hat so die Chance, neues Vertrauen zu gewinnen und zu zeigen, dass es sich jetzt an die Regeln hält und daraus gelernt hat.

milkids: Du hast eben von „intrinsischer Motivation“ gesprochen. Was genau ist damit gemeint in Bezug auf flunkern?

Johanna Zurwieden: Als intrinsische Motivation wird die aus sich selbst entstehende Motivation bezeichnet. Verhalten/Handeln, das nicht von außen motiviert ist. Gemeint ist, dass sie nicht nur „nicht lügen“, um eine drohende Strafe abzuwenden, sondern, dass sie nicht lügen, weil sie verstehen, wieso die Handlung falsch war. Dies ist ein wichtiger Meilenstein in der Moralentwicklung des Kindes – weg von der Orientierung an Strafen, hin zur Orientierung an eigene Werte und Motive.

Sie flunkern nicht beim Thema Zähne putzen, weil sie die eigene Motivation haben, dass sie kein Karies bekommen.

Daher, wenn man merkt das Kind hat geflunkert, Gespräch suchen und die Situation erklären.

milkids: Welche Reaktion wäre falsch, wenn das Kind schwindelt? Und wieso?

Johanna Zurwieden: Direkt loswettern und blind irgendwelche Sanktionen verhängen.

Bei Konsequenzen wie Strafen, Drohungen oder Streit lügen Kinder meist nur noch mehr. Denn genau aus diesem Grund sagen Kinder häufig nicht die Wahrheit, weil sie Angst vor den Folgen haben. Eine solche Reaktion bestätigt das Kind in seiner Angst.
Auch wichtig: die Situation nicht im Beisein von Freunden oder anderen Personen besprechen. Besser ist eine vertrauensvolle Umgebung, zum Beispiel in Ruhe zu Hause.

milkids: Also auch nicht mit langen Nasen wie Pinocchio und kurzen Beinen drohen?

Johanna Zurwieden: Nein, auf keinen Fall. Dann sind wir Eltern ja kein Stück besser und flunkern ja selber.

milkids: Gibt es auch Situationen, in denen du kleine Flunkereien/Täuschungen durchgehen lassen würdest?

Johanna Zurwieden: Die gibt es. Es ist aber ein ganz schmaler Grad.

Zum Beispiel beim Thema Naschen. Wenn ich Alma & Tilde sage, jeder darf sich zwei Teile nehmen und dann ist gut. Ich bin mir sicher, da sind auch hin und wieder drei Teile in den Mund gewandert. In solchen Situationen ist es mir dann wichtiger, die Selbstwirksamkeit und -regulationsfähigkeit zu unterstützen. Ich lasse sie also mit der kleinen Flunkerei davon kommen und das ist für mich in dieser Situation vollkommen okay und bewusst entschieden. Aber: Das muss jede/r für sich selbst entscheiden. Wo sind meine Grenzen, was ist mir wichtig und wo kann ich ein Auge zudrücken, um ggf. etwas anderes zu fördern.

milkids: Kann ein Kind „zu viel flunkern“, also so, dass es fachliche Hilfe braucht?

Johanna Zurwieden: Ja, auch kindliches Lügen kann ab einem gewissen Grad zu viel sein, so dass Handlungsbedarf besteht.

Es ist beispielsweise schwierig, wenn das Kind Flunkern als jegliche Strategie nutzt, um aus unangenehmen Situationen heraus zu kommen. Lügen also quasi auf der Tagesordnung steht und die einzige Handlungsmöglichkeit in verschiedenen sozialen Situationen zu sein scheint.

Und man sollte hellhörig werden, wenn das Kind durch Flunkern anderen schadet. Beispielweise, wenn es Geld klaut und dann sagen würde, „das habe ich auf der Straße gefunden oder das Geld hat mir meine Freundin geschenkt“. Hier werden Grenzen des sozialen Miteinanders überschritten. Ist es einmalig, kann man noch drüber hinweg sehen. Kommt es häufiger vor, sollte man sich Hilfe holen. Das klingt im ersten Moment total dramatisch. Ist es aber nicht. Dann lieber Support von Fachleuten nutzen und das „Problem“ in Angriff nehmen statt es zu ignorieren.

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