Alltag
Gute Kinderliteratur stärkt, ohne zu belehren
Vor ein paar Wochen wurden die Preisträger des Deutschen Jugendliteraturpreises bekanntgegeben. Die Literaturdidaktikerin Prof. Dr. Iris Kruse lehrt an der Universität Paderborn und hat den Vorsitz der ehrenamtlichen Kritiker:innenjury inne. Genau die richtige Gesprächspartnerin also, um zu erfahren, was gute Kinderliteratur ausmacht.
milkids: Was macht für Sie gute Kinderliteratur aus?
Prof. Dr. Iris Kruse: Gute Kinderliteratur stärkt, ohne zu belehren. Sie ermöglicht ästhetische Erfahrungen, die Kinder zum Fragen, Fühlen und Handeln anregen. Kinderliteratur soll Handlungs- und Denkimpulse geben, die bleibend sind. Sie soll Kinder resilient und zu demokratischen Persönlichkeiten machen. Wichtig ist, dass am Ende Hoffnung und Handlungsfähigkeit stehen – nicht Niedergeschlagenheit und schonungslose Verstörung. Wichtig ist, dass Bücher „die Ethik des Erzählens“ wahren: Kinderliteratur darf nichts verschweigen, sondern sie soll Kinder ins Licht setzen. Sie sollen wissen, dass sie handeln können, und dass es gut ist, sich zu positionieren. Ein gutes Buch begleitet Kinder in ihrer Entwicklung, ohne sie zu überfordern, und schafft es, dass sie sich als Teil einer größeren Gemeinschaft begreifen. Dabei geht es nicht um Unterhaltung um jeden Preis, sondern um bleibende Erfahrungen.
milkids: Woran erkenne ich gute Kinderbücher?
Prof. Dr. Iris Kruse: Das ist eine sehr komplexe Frage. Da gibt es leider nicht „den einen Kriterienkatalog“, der schnelles Erkennen auf einen Blick möglich macht. Beim Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kritiker:innenjury haben wir drei große Dimensionen, auf die wir einen Blick werfen: ästhetische Qualität (Sprache, Bilder, Erzählweise), Adressat:innenorientierung (das Buch spricht Kinder wirklich an, ohne sie zu unter- oder überfordern) und Wirkungsästhetik (es regt zum Nachdenken an, bleibt im Gedächtnis, stärkt die Handlungsfähigkeit).
Aber am Ende zählt die eigene Erfahrung: Probieren Sie es aus, beobachten Sie, wie Ihr Kind reagiert, und vertrauen Sie auf Ihre Intuition.
© Adelheid Rutenburges „Sie muss ästhetisch ansprechend sein, Kinder ernst nehmen – und ihnen Mut machen, die Welt mitzugestalten.“
Dr. Iris Kruse
milkids: Wieso sind Bücher wichtig für den Identitätsbildungsprozess von Kindern?
Prof. Dr. Iris Kruse: Bücher sind für Kinder Spiegel und Türöffner zugleich: Sie zeigen, wer sie sind und wer sie sein könnten. Kinderliteratur schafft einen geschützten Raum, in dem Kinder Konflikte durchspielen, Gefühle verstehen und Vielfalt erleben.
Es ist ein Probehandeln: „Ich bin in Sicherheit, werde nicht selbst bedroht.“ Geschichten stärken die Resilienz, erweitern den Horizont. Bücher geben Kindern Werkzeuge an die Hand, die es ihnen ermöglichen, sich und die und die Welt zu erkunden. Da darf es auch um schwere Themen gehen, denn sie selbst bleiben im Schutzraum der Geschichten.
milkids: Haben Kinderbücher einen Erziehungsauftrag?
Prof. Dr. Iris Kruse: Das ist eine der spannendsten und meistdiskutierten Fragen der Kinderliteraturdidaktik! Meiner Meinung nach haben Kinderbücher einen Erziehungsauftrag, aber nicht im Sinne von Belehrung oder Moralpredigt. Sie haben die Aufgabe, Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten, ihnen Werte, Handlungsfähigkeit und demokratische Haltung zu vermitteln und das auf eine Weise, die sie ästhetisch berührt und zum Nachdenken anregt. Jede Autorin, jeder Autor schreibt vor dem Hintergrund des eigenen Wertesystems. Ob wir wollen oder nicht, Bücher vermitteln immer auch Haltungen, Normen und Perspektiven.
Gute Kinderliteratur stärkt Kinder, ohne sie zu bevormunden. Sie zeigt ihnen, wie man resilient wird, wie man Empathie entwickelt, wie man sich in einer komplexen Welt zurechtfindet und das alles durch Geschichten, die berühren und fesseln. Gerade heute, in einer Zeit, in der demokratische Werte bedroht sind, können wir es uns nicht leisten, Kinderliteratur als „neutral“ zu betrachten. Bücher prägen die kindliche Sicht auf die Welt. Deshalb brauchen wir Geschichten, die Vielfalt abbilden, zum kritischen Denken anregen und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Im Auge behalten müssen wir dabei immer die ästhetische Qualität.
milkids: Warum sind Kinderbücher eigentlich immer auch ein Generationenthema?
Prof. Dr. Iris Kruse: Kinderliteratur ist sehr viel weniger „frei“ , als Literatur für Erwachsene es ist. Sie wird von Erwachsenen für Kinder geschrieben, sie wird von Erwachsenen für Kinder ausgewählt: ob von Eltern, Lehrer:innen oder Erzieher:innen. Und selbst wenn wir – was sehr gut ist – Kindern eine große Literaturvielfalt anbieten, ist immer ein Auswahlprozess vorangegangen. Kinderliteratur ist immer vermittelte Literatur. Und die Schwerpunkte der Vermittler:innen entscheiden, welche Geschichten Kinder überhaupt kennenlernen.
Kinderbücher werden immer durch die Perspektive, Werte und Schwerpunktsetzungen der Erwachsenen gefiltert. Das beginnt bei der Auswahl der Bücher, geht über das Vorlesen bis hin zur Interpretation. Sei es im Elternhaus, in der Kita oder in der Schule. Das bedeutet: Kinderliteratur ist immer auch ein intergenerationelles Projekt. Sie entsteht im Dialog zwischen den Generationen und spiegelt wider, was Erwachsene Kindern zutrauen, was sie ihnen vermitteln wollen und wie sie die Welt für sie deuten.
milkids: Haben sich Sprach- und Bilderwelten in den letzten Jahren verändert?
Prof. Dr. Iris Kruse: Kinderliteratur, wie wir sie heute kennen, ist ein vergleichsweise junges Phänomen. Erst seit den 1960er-Jahren, mit der anti-autoritären Erziehungswende, rückt das Kind als eigenständige Leserin bzw. als eigenständiger Leser in den Fokus – und das ist auch dringend nötig gewesen. Früher zeigte Kinderliteratur oft eine Welt der Homogenität: weiß, heteronormativ, mit klaren Rollenbildern. Diversität kam kaum vor, und wenn, dann oft als Klischee. Heute zeigen gute Kinderbücher endlich die Vielfalt, die es in der Realität gibt. Das ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit, denn jedes Kind muss sich in Geschichten wiederfinden können.
Früher wurden Begriffe wie das N-Wort oder das Z-Wort als selbstverständlich und unhinterfragt möglich angesehen – heute wissen wir, wie verletzend und ausgrenzend solche Wörter sind. Doch es geht nicht nur um das Ersetzen einzelner Begriffe. Sprache prägt das Denken. Wenn Kinder in Büchern nur eine bestimmte Art von Familie oder Lebensrealität sehen, dann lernen sie, dass alles andere nicht dazugehört. Das sollten und können wir uns keinesfalls mehr leisten.
Auch die Bilderwelten haben sich zum Besseren gewandelt. Früher dominierten in deutschsprachiger Kinderliteratur helle Haut, „klassische“ Familien und klischeehafte Rollenbilder. Heute sehen Kinder endlich auch Figuren, die ihnen ähneln – ob mit Kopftuch, Rollstuhl oder zwei Papas. Das ist nicht nur Repräsentation, das ist Empowerment. Denn Bilder sind nicht neutral. Sie vermitteln Kindern, wer dazugehört und wer nicht. Wenn ein Kind sich in einem Buch nicht wiederfindet, dann sagt ihm das: „Deine Geschichte ist nicht wichtig.“ Das dürfen wir nicht zulassen.
milkids: Wie gehe ich mit veralteter Wortwahl in alten Büchern um? Wegstreichen?
Prof. Dr. Iris Kruse: Bei rassistischen Begriffen sollte man das Wort streichen und ersetzen. Das ist keine Zensur, sondern eine Anpassung an heutige Standards. In Neuauflagen der so genannten „Klassiker der Kinderliteratur“ sind diese Wörter auch nicht mehr zu finden. Aber das Wegstreichen allein reicht nicht, denn oft sind veraltete Begriffe von Erzählwelten gerahmt, die rassistische oder klischeehafte Strukturen reproduzieren, wie etwa kolonialistische Klischees in Pippi Langstrumpf. Da sollte das Buch generell in Frage gestellt werden. Denn es gibt heute so viele wunderbare, diversitätssensible Bücher. Warum sollte ich meinem Kind ausgerechnet ein Buch vorlesen, das ihm rassistische Weltbilder vermittelt, nur weil ich es selbst als Kind vielleicht geliebt habe? Eine Ausnahme sind Bücher, die ausdrücklich als historisches Dokument behandelt werden, z.B. im Unterricht. Hier kann eine kritische Lektüre sinnvoll sein.
milkids: Sehen Sie noch weiteren Handlungsbedarf in Sprache und Bilderwelten?
Prof. Dr. Iris Kruse: Na klar, es geht ja immer „mehr“. Oberflächliche Diversität reicht nicht aus. Wir brauchen Geschichten, die Systeme hinterfragen, die Kindern helfen, Rassismus, Klassismus oder Ableismus [FB1] zu verstehen und zu bekämpfen. Kinderliteratur darf nicht sagen: „So ist die Welt“, sondern sie muss fragen: „Wie kann die Welt besser werden und was kannst du dazu beitragen?“
Die Veränderungen der letzten Jahre sind kein Geschenk, sondern das Ergebnis von Kritik und Diskurs. Und wir müssen weitergehen, denn Kinder verdienen Bücher, die sie wirklich sehen, mit all ihren Facetten in dieser wahrlich komplexen Welt. Gute Kinderliteratur heute sagt nicht: „Pass dich an“, sondern sie ermutigt, indem sie betont: „Die Welt ist vielfältig und du hast das Recht, sie mitzugestalten.“
milkids: Was kann Kindern inhaltlich zugemutet werden?
Prof. Dr. Iris Kruse: Kindern kann inhaltlich viel mehr zugemutet werden, als wir oft denken. Hier kommt es aber auf die Art des Erzählens an. Kinder können allen Themen des Lebens in Büchern begegnen – wenn die Geschichte ihnen bei aller Offenheit zugleich Sicherheit, Hoffnung und Handlungsmöglichkeiten vermittelt. Bei der Frage nach schweren und komplexen Themen für Kinder geht es nicht um das „Ob“, sondern um das „Wie“.
Kinder spüren, wenn etwas verschwiegen wird, und fühlen sich in einer Atmosphäre des Versteckens und Verschleierns oft unsicherer, als wenn sie altersgerechte, ehrliche Antworten bekommen. Wichtig ist, dass das Kind nicht allein gelassen wird, wenn es um Wahrheiten der Welt und des Zusammenlebens geht. Es braucht Begleitung und Raum für Fragen.
Bewahrpädagogik schützt nicht, sie schwächt. Kinder sind unvorbereitet, wenn in Büchern nur heile Welten gezeigt und Konflikte ausgeblendet werden. Statt Schutz entsteht Verunsicherung, wenn Kinder plötzlich mit Themen wie Tod, Krieg oder Ungerechtigkeit konfrontiert werden, ohne je gelernt zu haben, sie einzuordnen. Wenn ein Kind nachfragt, etwa zu Nachrichten über Krieg oder den Tod, dann ist der Moment da. Dann braucht es Antworten, die es versteht. In einer Geschichte kann ein Kind Trauer oder Angst erleben, ohne sie real durchmachen zu müssen. Das ist der große Unterschied zu Nachrichten oder direkten Erfahrungen.
milkids: Stimmt das: Es gab noch nie so viel (gute) Kinderliteratur – und es wird immer weniger vorgelesen?
Prof. Dr. Iris Kruse: Beides stimmt. Es gibt tatsächlich so viel hochwertige Kinderliteratur wie nie zuvor – aber gleichzeitig zeigt der aktuelle Vorlesemonitor, dass jedes dritte Kind in Deutschland kaum oder nie vorgelesen bekommt. Weil Vorlesen eine zentrale Bildungsressource darf es keinesfalls als Luxus angesehen und behandelt werden. Es ist die Basis.
milkids: Sollte man auch Kindern, die schon selbst lesen können, etwas vorlesen? Wenn ja, warum?
Prof. Dr. Iris Kruse: Ja, unbedingt! Vorlesen ist kein „Starterpaket“ für das Lesen lernen, das man nach der Grundschule ablegt. Vorgelesen werden sollte den Kindern auch weit über den eigenen Lesebeginn hinaus! Warum? Weil Kinder, selbst wenn sie technisch flüssig lesen können, durch das Vorlesen weiterhin Zugang zu komplexen Erzählwelten bekommen, die sie im eigenständigen Lesen noch nicht bewältigen würden.
Denn wenn wir Kindern nur solche Literatur zukommen lassen, die sie selbst erlesen können, reduzieren wir sie auf Unterkomplexität. Rezeptiv – also durch das Zuhören – sind Leseanfänger:innen in der Lage, auch anspruchsvolle, komplex aufgebaute Geschichten zu verstehen und zu genießen. Das Vorlesen hält diese Tür offen. Es ist wie ein Sprungbrett, das ihnen ermöglicht, in Erzählwelten einzutauchen, die ihre eigene Lesefähigkeit ihnen (noch) nicht erschließen würde. Das stärkt auch ohne eigenes Lesen ihre Sprachfähigkeiten und überdies ihre emotionale und kognitive Entwicklung.
Und: Nichts prägt die Lesefreude und die emotionale Bindung an Bücher so sehr wie das gemeinsame Erleben von Geschichten in geborgenen und gebundenen Vorlesesituationen.
[FB1]Ableismus: Es handelt sich um einen Begriff, der Diskriminierung oder Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen beschreibt.



