Alltag
Für und Wider von Schulnoten
Sind Zensuren noch zeitgemäß oder längst überholt – ein Überblick
Den Januar bringe ich persönlich zu allererst mit Versicherungsrechnungen in Verbindung. Post, die mich deutlich weniger erfreut als vor ein paar Wochen noch die Weihnachtskarten. Schulkinder verbinden mit dem Januar meist ganz andere Mitteilungen: Halbjahreszeugnisse!
Diese sorgen nicht nur für Freude, sondern durchaus auch Unbehagen bei dem ein oder anderen Kind.
Als ich noch die Schulbank drückte, habe ich Noten nie infrage gestellt. Für mich gehörten sie zur Schule wie die Schere zum Friseur oder die Brötchen zum Bäcker. Aber jetzt, wo mein kleines Mini-me in diesem Schulsystem angekommen ist, hinterfrage ich doch die ein oder andere Sache aus Elternperspektive. Lotta wird mit ihrem allerersten Zeugnis noch keine Noten erhalten, sondern eine Beurteilung. Noten gibt’s erst später. Aber wenn ich weiter denke auch geprägt durch Schilderungen anderer, welche Belastungen Noten in den Jahrgängen des Schulübertritts und danach in die Familien tragen, so komme ich ins Grübeln. Oder nicht? Schwindet mit Noten die Motivation und Freude an der Schule? Sind Noten noch angebracht oder ein alter Hut? Ist es nicht „allerhöchste Eisenbahn“ für eine zeitgemäße Reformierung des deutschen Notensystems? Die Recherche zeigt: Zuspruch und Ablehnung von Noten sowie schriftlichen Bewertungen in der Schule sind so alt wie das deutsche Schulnoten-System selbst. Und das ist definitiv ein OLDIE!
Aber wo kommen die Schulnoten eigentlich her? Ihr Beginn liegt Jahrhunderte zurück, als die Bildung noch in der Hand der Kirche lag. Der 1534 gegründete Jesuitenorden führte in seinen Klosterschulen ein Klassensystem ein. Wer in eine höhere Klasse aufsteigen wollte, musste eine Prüfung ablegen, die von den Lehrern nach klaren Regeln mit einem fünfstufigen Notensystem beurteilt wurde. Es bildet bis heute die Grundlage für das Notensystem in Deutschland.
Und heute? Was (sollen) Noten widerspiegeln?
Noten sind Grundpfeiler unseres Bildungssystems, mit deren Hilfe die Leistung der Kinder und Jugendlichen nach einem Standard verglichen werden. Das heißt, was zu einem bestimmten Zeitpunkt an Wissen und Können erwartet wird sowie im Abgleich mit der Klasse. Kinder erfahren durch die Note, wo sie sich leistungsmäßig befinden. SchülerInnen in NRW erhalten am Ende des ersten Schuljahres ein Zeugnis ohne Noten. Es handelt sich um eine schriftliche Bewertung über den Leistungsstand in den Fächern und den Lernbereichen sowie deren individuellen Lernfortschritte. Die Möglichkeit notenfreier Zeugnisse besteht bis zum Ende des dritten Schuljahres. Erst die Zeugnisse der Klasse 4 enthalten ausschließlich Noten. Es gibt aber durchaus auch Schulen in NRW, auch der Region, mit alternativen Konzepten, die darüberhinaus auf Notenzeugnisse verzichten.
Zwei Meinungen: Die einen halten Noten für motivierend, die anderen finden, sie trainieren die Lust am Lernen ab
Sind Schulnoten noch zeitgemäß oder gehören sie ganz abgeschafft? Hier gibt es wenig überraschend – zwei Lager, egal ob im privaten Umfeld oder unter Experten. Für Schulnoten spricht nach Ansicht von BefürworterInnen, dass sie von Kindern als Zahl übersichtlicher und einheitlicher empfunden werden. Noten geben ein schnelles Feedback. Sie sind eindeutig und ermöglichen bei Reflexion, aus Fehlern zu lernen, um es beim nächsten Mal besser zu machen. Das sporne an. Ein weiteres Argument der „Pro-Stimmen“: Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und Noten bereiten darauf vor – ganz nach dem Motto “Früh übt sich!“ Denn auch in der späteren Arbeitswelt werde man beurteilt und nach Leistung bezahlt.
Dem gegenüber werden immer mehr Stimmen laut, die eine Abschaffung des klassischen Notensystems in Deutschland und der vergleichenden Leistungsbewertung fordern. Vor allem für Kinder im Grundschulalter könne eine schlechte Note emotional belastend sein. Denn das Signal, das ausgesendet werde, lautet: Du kannst das nicht. Für die Kritiker ist dieses Urteil viel zu undifferenziert. Vielmehr müsse es einschränkend lauten: NOCH nicht. Die Folge: Angst und Druck werden aufgebaut, die den Spaß und die Freude an neuen Herausforderungen gänzlich nehmen. Sie verlieren schlichtweg die kindliche Lernfreude.
In dem Buch „Eine Schule ohne Noten“ von Björn Nölte und Philippe Wampfler wird dieser Effekt am Beispiel von Delfinen aufgezeigt. In freier Wildbahn springen diese sehr viel häufiger und leidenschaftlicher als im Delfinarium. Dort springen sie nämlich nur noch, wenn ihnen ein Fisch vorgehalten wird. Noten sind für die Autoren nicht nur scheingenau: „Sie sind psychologisch und systematisch verzerrt und ungerecht – auch weil sie von vielen Faktoren beeinflusst werden, die nichts mit der Leistung von Lernenden zu tun haben.“
Auch Lerncoach Caroline von St. Ange, Autorin des Buches „Alles ist schwer, bevor es leicht ist. Wie Lernen gelingt“ kann Schulnoten in den ersten Schuljahren nichts Positives abgewinnen. Ihrer Meinung nach machten Noten „das Falsche vergleichbar“. Denn: Eine Klasse sei eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe an Kindern, die innerhalb eines Jahres geboren wurden und am ähnlichen Wohnort leben. So sitzen also in einer Klasse viele Kinder, mit verschiedenen Lernständen und Voraussetzungen. Aber genau diese zufällig zusammengestellten Kinder, werden miteinander verglichen, und zwar mit Noten. Hinzu kommt, dass all diese Kinder ganz unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten haben – logischerweise. Und diese sind, ganz im Gegenteil zu all den Jahren zuvor, in der Schule nicht mehr ok. Da müssen alle am selben Ort, zur selben Zeit mit den selben Lernmethoden, die selben Sachen lernen und dann auf die genau gleiche Art und Weise ausspucken. Ein Blick auf das Individuum? Fehlanzeige!
Fame Bickley
Elterntipp
Caroline von St. Ange rät, Kindern immer wieder zu erklären, dass Noten Momentaufnahmen sind. Sie sagen weder etwas über die Intelligenz noch über die Zukunft des Kindes aus. Aber Achtung. Auch eine gute Note bedeutet nicht „Liegewiese“ für das Kind. Sie heißt nur: „Bis hierhin hast du das super verstanden und jetzt geht es weiter.“
Wie sollten Erwachsene reagieren, wenn das Kind mit einer „schlechten Note“ nach Hause kommt?
Nach Caroline von St. Ange sollte die erste Frage an das Kind lauten: „Hast du dein Bestes gegeben?“ Wenn nein: Dann ist die Note eben das Resultat! Hat das Kind allerdings viel gelernt und tatsächlich sein Bestes gegeben, befindet es sich in einer sogenannten „Lernkiller-Situation“. Warum? Der logische Schluss für das Kind von „Vorher habe ich wenig gelernt und eine schlechte Note geschrieben.“ zu „Nun habe ich viel gelernt und trotzdem eine schlechte Note geschrieben.“ könnte dann lauten: „Viel Lernen bringt nichts.“
Wie können Erwachsene dieses Dilemma entkräften und das Kind aufmuntern?
Nach Caroline von St. Ange könnte ein Ratschlag etwa so lauten: „Du hast so viel gelernt und trotzdem wurde deine Anstrengung noch nicht belohnt. Das tut mir so leid. Auch ich kenne dieses Gefühl ganz genau. Immer, wirklich jedes Mal, hat sich meine Anstrengung irgendwann doch ausgezahlt. Früher oder später wird Anstrengung belohnt. Wir machen uns jetzt trotzdem einen richtig schönen Tag und lassen die blöde Note eine blöde Note sein. Morgen schmieden wir dann einen Plan, wie es weitergeht!“
Literatur: Björn Nölte, Philippe Wampfler, Eine Schule ohne Noten
Neue Wege zum Umgang mit Lernen und Leistung, 136 Seiten hep Verlag, ISBN 978-3-0355-1966-2
22 Euro
Caroline von St. Ange, Alles ist schwer, bevor es leicht ist
Wie Lernen gelingt, 256 Seiten, Rowohlt Taschenbuch , ISBN 978-3499011030
14 Euro