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Ein Schatz fürs Leben

Märchen sind zeitlos, machen Mut und haben immer ein gutes Ende 

Es war einmal . . .  eine goldene Kugel, ein Apfel, eine Spindel mit Faden, ein Lebkuchen, eine Feder, ein alter Schlüsselbund, Streichhölzer. Die Vitrine im Deutschen Märchen- und Wesersagenmuseum in Bad Oeynhausen ist gut gefüllt mit Utensilien. Die zugehörigen Märchen zu finden, ist Aufgabe für junge Museumsbesucher – gern im Rahmen einer Führung für Kinder. Bereits am Eingang der historischen, weißen Villa direkt am Kurpark heißen bekannte Figuren Interessierte willkommen: Der gestiefelte Kater, Rotkäppchen, Peter Pan, der Rattenfänger von Hameln und viele andere wecken die Neugier.

Im Treppenhaus hängt Rapunzels Haarzopf aus dem ersten Stock in den Flur hinunter. „Auch heutzutage sind Kinder von Märchen fasziniert. Das Alter zwischen fünf und zehn Jahren wird nicht ohne Grund das ,Märchenalter‘ genannt. Die Kinder leben mit und in diesen Geschichten“, weiß Hanna Dose, Leiterin des Museums: „Die Welt des Märchens ist noch in Ordnung, denn hier wird Böses bestraft und die Helden der Geschichte haben die Möglichkeit, Abenteuer zu bestehen und an ihren Herausforderungen zu wachsen.“ Märchen erzählen vom Leben. Sie sparen nichts aus, zeigen, wie Helden schwierige Situationen mit Rat und Glück, List und Tücke meistern und bieten Lösungsvorschläge an. 

Das Museum mit seinen zahlreichen Aktivitäten liegt an der Deutschen Märchenstraße, die im vergangenen Jahr 40. Geburtstag feierte und auf über 600 Kilometern – von Hanau bis Bremen und Bremerhaven – dazu einlädt, den Lebensstationen und Geschichten von Jacob und Wilhelm Grimm nachzuspüren (www.deutsche-maerchenstrasse.com). Eine lange Tradition im 1973 eröffneten Haus hat das freie Erzählen. Alle 14 Tage treffen sich rund 20 Märchenerzählerinnen und -erzähler, um sich auszutauschen und das Erzählen zu üben. Einmal im Monat bieten sie eine öffentliche Erzählstunde mit wechselnden Schwerpunkten: Handwerksmärchen, Märchen von Liebesglück und Liebesleid, Tier- und Pflanzenmärchen, heitere wie ernste, traurige oder gruselige Märchen werden dann frei vorgetragen. Spezielle Buchungen zu bestimmten Themen und für Kindergartengruppen oder Schulklassen sind ebenfalls möglich.

Eine der Erzählerinnen im Märchenmuseum ist Gudrun Nossek. Seit vier Jahren begeistert sie Jung und Alt für ihre Geschichten. Im beige-braunen Leinenkleid mit den ausladenden Ärmeln, spitzen roten Schuhen und mit ruhiger Stimme trägt sie vor. „Man kann nur Märchen erzählen, die man sie selbst gerne mag“, erklärt sie am Rande einer Erzählstunde. Spricht sie vor Kindern, dann hat sie auch immer passende Requisiten dabei – die goldene Kugel des Froschkönigs etwa. „Kinder sind ein anspruchsvolles Publikum. Sie sind schnell gefesselt von Geschichten, wollen aber auch alles ganz genau wissen“, ergänzt sie lachend. Märchen mit Zauberern, Riesen und Zwergen stünden bei Kindern besonders hoch im Kurs. Für zu grausam oder pädagogisch ungeeignet, wie in den 1970er-Jahren kritisiert, hält Gudrun Nossek die Texte nicht: „Märchen bilden das Leben ab. Sie enthalten Sehnsüchte, Wünsche und Gefühle. Auch unsere heutige Zeit ist ja nicht nur schön, auch in unserem Leben gibt es Dinge, die nicht toll sind und das spiegelt ein Märchen dann eben wider.“ Aber solche Situationen werden überwunden. Märchen haben bei Gudrun Nossek immer ein gutes Ende und machen Mut.

Kinder mögen das freie Erzählen ebenso wie die Angebote für Geburtstagskinder und ihre Gäste im Museum - beispielsweise das Prinzessinnenfest, die Märchenrallye Aladin, die Reise ins Reich der Meerjungfrauen oder die Schatzkartensuche für Piraten. „Unsere Erzähler und die Geburtstagsaktionen sind sehr nachgefragt, auch bei speziellen Märchentagen erfährt das Thema  viel Aufmerksamkeit“, freut sich Dose. Gleichzeitig hat sie den Eindruck, dass der Stellenwert von Märchen in Familien abgenommen hat. „Das mag auch daran liegen, dass diese aufgrund der kontroversen Debatte in den 1970er-Jahren – als die heutigen Eltern Kinder waren – weniger vorgelesen wurden“, stellt sie leicht bedauernd fest, denn: „Mit diesen Geschichten nimmt man einen Schatz mit ins Leben.“

Auch Veronika Schmidt-Lentzen befasst sich mit Begeisterung mit den klassischen Geschichten. Mehrmals im Jahr bietet sie sowohl im Bielefelder Bauernhausmuseum als auch in der Hedwig-Dornbusch-Schule ihren Kurs „Märchen & Kochen“ für Kinder und ihre (Groß-)eltern an. Kleine Köchinnen und Köche können dann gemeinsam Geschichten hören oder in verteilten Rollen lesen und spielen und anschließend ein märchenhaftes Menü zaubern. Egal ob „Der süße Brei“, „Der dicke fette Pfannekuchen“ oder „Weihnachten in der Speisekammer“ – Texte, in denen es um Zauberwelten und gutes Essen geht, gibt es einige. Auf die Idee für ihren besonderen Kochkurs kam die ehemalige Mitarbeiterin der Universitätsverwaltung, als ihre Enkelkinder größer wurden: „Kinder fasziniert das Unwahrscheinliche, Unwirkliche, Zauberei im Märchen – etwa mit Töpfen, die ohne Ende Brei oder Spaghetti kochen. Das finden auch die 7- bis 8-Jährigen noch toll.“ Die nächsten Termine finden statt am Samstag, 10. Dezember (www.bielefelder-bauernhausmuseum.de) sowie am Dienstag, 13. Dezember (www.hedwig-dornbusch-schule.de).

Der Erziehungswissenschaftler Oliver Geister, Autor des Buches „Kleine Pädagogik des Märchens“, schätzt das Zeitlose an Märchen und dass diese den Kindern sehr viel Raum für Fantasie lassen. Da die Helden oft mit einer kindlichen Figur besetzt sind, die sich in schwerer Stunde bewähren muss, würden so Konflikte und Entwicklungsprozesse des Kindes bildhaft dargestellt. „Und die viel gescholtene Grausamkeit scheint die Großen oft mehr zu beunruhigen als die Kinder selbst, die das Böse nicht in dem Ausmaß sehen wie Erwachsene. „Die Hexe in Hänsel und Gretel ist ein Symbol für das Böse, das vernichtet werden muss, damit das Gute siegen kann“, so Oliver Geister.

„Erwachsene sollten mit ihren Kindern über das Gelesene reden. So setzen sich die Kinder mit den Themen auseinander und fühlen sich verstanden. Und gleichzeitig lernen die Eltern dabei, was ihre Kinder beschäftigt“, erklärt der Lehrer, der regelmäßig Seminare zum Thema Märchenpädagogik an der Universität Münster anbietet. Oliver Geister schätzt die einfache und klare Struktur der Geschichten als eine Art Gegenstück zu den schnell wechselnden Bildern von Fernseher oder Computer. Ein weiterer Aspekt: gemeinsame Märchenzeit mit gemeinsamem Kuscheln bringt sehr viel Nähe.

Und sie lebten vergnügt bis an ihr Lebensende . . .

Stefanie Kullmann

Foto: © Deutsche Märchenstraße e.V., Fotograf: Paavo Blafield

 

Welche Märchen ab welchem Alter?

4 bis 6 Jahre

Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm:

  • Der Froschkönig
  • Der Wolf und die sieben Geißlein
  • Hänsel und Gretel
  • Aschenputtel
  • Frau Holle
  • Rotkäppchen
  • Die Bremer Stadtmusikanten
  • Dornröschen
  • Schneewittchen
  • Rumpelstilzchen
  • Die drei Federn
  • Der süße Brei
  • Die Sterntaler

 

6 bis 8 Jahre

Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm:

  • Das Lumpengesindel
  • Rapunzel
  • Die drei Männlein im Walde
  • Die weiße Schlange
  • Hans im Glück
  • Die Gänsemagd
  • Hans, mein Igel
  • Der Stiefel von Büffelleder
  • Märchen von Christian Peitz
     

8 bis 10 Jahre

Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm:

  • Der treue Johannes
  • Der Teufel mit den drei goldenen Haaren
  • Fundevogel
  • Der Königssohn, der sich vor nichts fürchtet
  • Der Eisenhans
  • Die zertanzten Schuhe
  • Das Meerhäschen

Kunstmärchen zum Selberlesen von Hans Christian Andersen und Ludwig Bechstein, Märchen von Wilhelm Hauff, Tausendundeine Nacht

(Quelle: Dr. Oliver Geister/Münster, www.maerchenpaedagogik.de)