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Die Puppenspielerin

Mit Fantasie und viel Herzblut: Dagmar Selje und die Welt der Figuren  

Dagmar Selje nimmt den Kasper in die Hand, und schon erwacht der zum Leben, wuselt aufgeregt um den Besuch herum und beäugt ihn neugierig. „Theaterspiel und Erzählen liegen mir einfach im Blut“, sagt die 54-Jährige. Sie ist mit den Puppen groß geworden und begeistert seit Jahrzehnten damit ihr Publikum. Selje – der Name ist vielen ein Begriff und nicht wegzudenken aus Bielefeld. Und doch musste sich die Puppenspielerin mit dem Undenkbaren auseinandersetzen.

„Das war schon eine nervenaufreibende Zeit.“ Der ganze Stress der vergangenen Jahre schwingt in ihrer Stimme mit. Denn 2014 musste das Puppentheater aus dem Domizil in der Ravensberger Straße ausziehen, weil die Stadt das Gebäude verkauft hatte. Zwar gab es ein Ausweichquartier im Bielefelder Osten, aber eine dauerhafte und vor allem bezahlbare Lösung war lange nicht in Sicht. Und ohne die hätte es das feste Theater so nicht weiter geben können!

Doch Ende gut, alles gut. Ihre Puppen haben wieder ein Zuhause, wieder mitten in der Stadt, im ehemaligen Skala-Kino am Jahnplatz. Zwei alte Kino-Säle wurden zur Puppenbühne umgebaut, und einen Raum für Workshops gibt es auch. „Besser hätte es nicht kommen können“, freut sich Dagmar Selje. Sie mag das Ambiente, den alten Kino-Charme: „Außerdem verbinden sich hier zwei Bielefelder Traditionen: Die Geschichte des Filmhauses und unser Puppentheater, das mein Vater begonnen hat.“  

Diese Anfänge waren im Bunker Ulmenwall, auch so eine Bielefelder Kulturstätte mit Tradition. Vor mehr als 60 Jahren gehörte Helmut Selje zu den Gründungsvätern des Bunkers und begann dort - zunächst für Erwachsene - Puppentheater zu spielen. Als kleines Mädchen wuselte Dagmar ganz selbstverständlich in den unterirdischen Räumen herum, spielte mit den Märchenpuppen, sauste mit einem Requisitenauto eine Zuschauerrampe herunter und bekam ihre erste große Aufgabe im Puppentheater: Vorhangaufzieherin! Und so stand sie mit fünf, sechs Jahren in dem dunklen Gang neben der Spielleiste und zog mit aller Kraft den Vorhang hoch. „Der war wundervoll, aus Plüsch, und raffte sich nach oben“, erzählt sie kichernd.

Später wurden die Pflichten auch mal lästig. Statt mit Freundinnen zu spielen, ging es nach der Schule direkt ins Puppentheater. Nach dem frühen Tod der Mutter, die ebenfalls Theater spielte, übernahm sie als Jugendliche weitere Aufgaben und sprang ein, wenn Mitarbeiter ausfielen. War ihr Berufsweg da nicht vorgezeichnet? Dagmar Selje überlegt einen Moment. „Ich hätte auch etwas anderes machen dürfen.“ Sie probiert einiges aus, hospitiert bei anderen Theatern, studiert, macht eine Ausbildung zur Theaterpädagogin, wird Mutter, zieht mit Tochter und Mann in die Nähe von Hameln. „Ich wollte mich damals freistrampeln, mich unabhängig von meinem Vater entwickeln.“

Als der 1994 schwer erkrankt, kommt sie früher als geplant nach Bielefeld zurück. Ein Jahr später stirbt Helmut Selje - und die Tochter übernimmt. „Ich hatte diesen Beruf ja von der Pike auf gelernt, war dafür prädestiniert. Und so ein gut laufendes Kindertheater, in das mein Vater mehr als sein halbes Leben reingegeben hat - das kann man nicht einfach aufgeben!“ Mit Fantasie und ganz viel Herzblut gelingt es ihr, die Familientradition fortzuführen und doch einen eigenen Weg zu finden - auch wenn es anfangs nicht einfach war, aus dem großen Schatten des Vaters herauszutreten. Auch als junge Mutter mit Kind musste sie „diszipliniert arbeiten und gut planen.“ Der Beruf kostet Zeit und Kraft, als Chefin in einem kleinen Theater packt sie überall mit an. Und so magisch das Puppenspiel auf der Bühne ist - die Figuren zu halten, ihnen Stimme und Ausdruck zu geben, sei anstrengend.

Aber gerade dieses Körperliche, die Verbindung von Kunst und Handwerk, liebt sie so sehr. Schauspielerin alleine? Dagmar Selje schüttelt den Kopf. Nein, das wäre nichts für sie: „Dafür bin ich nicht genug Rampensau.“ Lieber bleibt sie dezent hinter der Bühne und spricht durch ihre Figuren, von denen ihr etliche ans Herz gewachsen sind. Die kleine Hexe zum Beispiel. Oder Pippi Langstrumpf. „Ich bin selbst auch ein bisschen Pippi Langstrumpf: stark und selbstbewusst, kreativ und improvisationslustig, und auch ein wenig schräg.“

Das Publikum dankt es ihr –die Kinder mit Lachen und   aufgeregtem Kreischen und die Eltern mit kräftigem Applaus. Manche klatschen in diesem Jahr noch intensiver oder sagen ihr einfach ganz direkt: „Toll, dass Sie weiter machen.“                                                                  

Silke Tornede